Bis zu diesem Urteil hatte die im Schulunterrichtsgesetz (§ 43a) verankerte Vorgabe gegolten, dass Mädchen in der Volksschule unverhüllt am Unterricht teilzunehmen haben. Diese Regelung wurde mit dem VGH-Urteil vom 10.12.2020 wieder aufgehoben (vorangegangen war die Klage von zwei Mädchen und deren Eltern).

Der VGH in Österreich begründet sein Urteil v.a. damit (link:Verhüllungsverbot an Volksschulen ist verfassungswidrig – Der Österreichische Verfassungsgerichtshof (vfgh.gv.at), dass das Verbot gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße. Er bezieht sich dabei auf die gebotene Gleichbehandlung von Religionen (bzw. dem Verbot ihrer Ungleichbehandlung) und nicht auf die Gleichbehandlung der Geschlechter (die jüdische Kippa und der Pakta der Sikhs bei Buben waren vom Verbot ausgenommen). 

Der VGH argumentiert weiters, dass durch das Verbot des (islamischen) Kopftuchs bei Mädchen „islamische Herkunft und Tradition als solche ausgegrenzt“ würden, was der Integration entgegenwirke.
Die Türkische Kulturgemeinde Österreich TKG verwies in ihrer Stellungnahme darauf, dass es genau umgekehrt wäre – gerade das Kopftuch bei Mädchen führe zu Segregation und Ausgrenzung. Das Kopftuch fungiere als religiöse und geschlechtliche Grenzziehung: Ihr dort, ich hier.

Das Urteil des VGH verweist auf das Paradox, dass beim Versuch, auf der einen Seite Gleichheit (in der Behandlung von Religionen) herzustellen bzw. zu garantieren, gleichzeitig Ungleichheit bei Individuen, bei Kindern (bei den Geschlechtern) in Kauf genommen bzw. religiös begründet und verfestigt wird. Religion wird dadurch über dem verfassungsmäßig verankerten Auftrag der Gleichstellung der Geschlechter und dem Kindswohlvorrangigkeitsprinzip gestellt. 

Kind mit Kopftuch in der Schule

Islamische Tradition? Sagt wer?

Seyran Ates, Juristin, Imamin in Berlin und Vertreterin eines liberalen Islam drückte auf Facebook ihr Bedauern darüber aus, dass der VGH in Österreich keine Unterscheidung macht zwischen dem Kopftuch bei muslimischen Mädchen und anderen Formen religiöser Kleidung. Aus ihrer Sicht behandelt die muslimische Verhüllung Individuen instrumentell ungleich und stuft sie, je nach sichtbarem Haaranteil in „ehrwürdig“ bis „nicht ehrwürdig“ ein, „womit soziale Kontrolle erzielt wird. Dies ist beim Kreuz und der Kippa nicht der Fall.“

Die Verschleierung von Mädchen aller Altersstufen steht für eine Diskriminierung und Sexualisierung von Minderjährigen und ist ausgerichtet auf frühe Geschlechtersegregation. Sie konstruiert ein Feindbild „Mann“ als stetige sexuelle Bedrohung und behindert die freie Bewegung und Entwicklung hin zu einem selbstbewussten und selbstbestimmten Körperbewusstsein. Die Verschleierung von Mädchen ist keine harmlose religiöse Bedeckung des Kopfes. Sie stellt eine geschlechtsspezifische Diskriminierung und eine gesundheitliche (psychische und körperliche) Gefahr dar. Ihre Chancen auf eine gleichberechtigte Teilnahme am gesamtgesellschaftlichen Leben werden durch das Kopftuch und dessen Symbolik eingeschränkt. Die Frühverschleierung konditioniert Mädchen von klein auf und erschwert ihnen, sich später tatsächlich selbstbestimmt evtl. auch gegen das Kopftuch zu entscheiden.

Overruled jede Religion in jedem Falle das Kindeswohl?

Was kommt als nächstes? Welche anderen religiösen „Traditionen“ könnten im Namen der Religion und des Rechts der Eltern auf religiöse Erziehung ausgegraben und die Durchsetzung der Kinderrechte für Mädchen schwächen?  Es sei daran erinnert, dass Artikel 1 des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern von den staatlichen Behörden einfordert, im Sinne des Vorrangs des Kindeswohls allen Kindern „die bestmögliche Entwicklung und Entfaltung“ zu ermöglichen. Wie soll diese freie Entwicklung und Entfaltung möglich sein, wenn Mädchen früh verinnerlichen, dass ihr Körper vor den Blicken durch das männliche Geschlecht verborgen werden muss? Wie passt das Urteil des VGH zur von Österreich im Jahr 2013 ratifizierten sog. Istanbul-Konvention des Europarates, welche von den unterzeichnenden Staaten Maßnahmen fordert, „um Veränderungen von sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Frauen und Männern mit dem Ziel zu bewirken, Vorurteile, Bräuche, Traditionen und alle sonstigen Vorgangsweisen, die auf der Vorstellung der Unterlegenheit der Frau oder auf Rollenzuweisungen für Frauen und Männer beruhen, zu beseitigen?“ 

Das VGH Urteil sollte der Anlass sein, sich mit den damit verbundenen Fragen und gesellschaftspolitischen Herausforderungen auf breiter Basis weiter auseinanderzusetzen. Und eine weitere Frage wäre auch noch, ob der vielzitierte Dialog mit den Eltern betroffener Mädchen ausreicht, dass diese in der Folge ihren Töchtern tatsächlich eine selbstbestimmte Persönlichkeitsentwicklung zugestehen. V.a. ist auch ehrlich zu diskutieren, wer diesen Dialog zu führen bereit und in der Lage ist. Und bitte auch unter Einbindung liberaler muslimischer Expertinnen und Experten.

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