„Die Mehrzahl der Frauen lebt in einem System von Einschüchterung, Erpressung und Zwängen.“ Kriminaloberrat a.D. Helmut Sporer im Interview

Der Augsburger Kriminaloberrat a.D. Helmut Sporer leitete 17 Jahre lang das Kommissariat 1 und war zuständig für organisierte Kriminalität: Menschenhandel, oft mit dem Zweck der sexuellen Ausbeutung.  

1. Warum gibt es keine aktuellen Zahlen zu Gewalt an Prostituierten?

Ein Medium zur Orientierung zu typischen Milieustraftaten (Zuhälterei, Zwangsprostitution, Menschenhandel, Ausbeutung von Prostituierten) zum Nachteil von Prostituierten ist das Lagebild Menschenhandel des Bundeskriminalamtes. Diese Daten bilden das Hellfeld, also die offiziell erfassten Fälle, ab. Die dort bekannt gemachten Fälle und Zahlen repräsentieren aber nicht die Realität. Der Großteil an Gewalt gegen Prostituierte ist nicht registriert, da sie im Dunkelfeld verübt wird und den Behörden nicht bekannt wird. Das Dunkelfeld kann nur geschätzt werden, ist Erfahrungswerten zufolge aber um ein Mehrfaches größer als das Hellfeld. Andere Straftaten zum Nachteil von Prostituierten wie z.B. Vergewaltigung, Körperverletzung, Nötigung oder Betrug sind, sofern sie angezeigt wurden, zwar in den Kriminalstatistiken des Bundes und der Länder erfasst, jedoch nicht immer ohne Weiteres dieser Opfergruppe zuzurechnen, da der Opferstatus „Prostituierte“ nicht immer explizit erfasst sein dürfte. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass es nach wie vor nicht einmal valide Zahlen über die Anzahl von Prostituierten, die in Deutschland tätig sind, gibt. Die mit dem Prostituiertenschutzgesetz von 2017 eingeführte Anmeldepflicht für Prostituierte, welche auch diesen Zweck erfüllen sollte, ist dafür völlig ungeeignet und auch untauglich, generell mehr Transparenz im Milieu zu schaffen. Eine bessere Transparenz würde gleichzeitig auch einen besseren Schutz für Prostituierte bedeuten.

2. Welche Rolle spielt der Schutz der Prostituierten bei der Arbeit der Polizei?

Die Überwachung der Prostitution ist eine wichtige polizeiliche Aufgabe im Rahmen der präventiven Verbrechensbekämpfung. Bordellkontrollen sollen dazu beitragen Missstände aufzudecken sowie Straftaten zu erkennen und dienen so dem Schutz von Prostituierten. Personenbezogene Daten von Prostituierten sind innerhalb der Polizei meist besonders geschützt. Milieutypische Straftaten wie Zuhälterei, Vergewaltigung, Menschenhandel oder Zwangsprostitution zählen zu Verletzungen höchstpersönlicher Rechtsgüter, sind schwere Straftaten und genießen grundsätzlich Priorität bei Ermittlungen. Darüber hinaus sind an diese Delikte meist spezielle und umfangreiche strafprozessrechtliche Opferschutzbestimmungen geknüpft. Andererseits gibt es große Probleme, Ermittlungen erfolgreich durchzuführen, weil die Anzeigebereitschaft von Opfer äußerst gering ist und Milieudelikte klassische Bereiche der Kontrollkriminalität darstellen. Bei den derzeitigen Gegebenheiten ist die Aussage des Opfers für eine Täterverurteilung meist unverzichtbar.

3. Besonders während der Corona Pandemie mussten viele Prostituierte illegal arbeiten. Inwieweit steht der Schutz der Frauen auch bei illegaler Prostitution im Fokus?

Den Begriff „illegal“ gilt es zu präzisieren. Er findet einerseits Verwendung bezüglich des ausländerrechtlichen Status der Prostituierten (Verbot der Ausübung einer Erwerbstätigkeit), zum anderen bezüglich der Prostitutionsausübung entgegen von Vorschriften, z. B. wg Corona/Infektionsschutzgesetz oder Sperrgebietsverordnungen. Beide Bereiche sind strikt zu trennen. Prostitution ist also nicht per se illegal, sondern nur bei Vorliegen spezieller Umstände wie persönlicher Verhältnisse, speziellen Orten oder Infektionsproblematiken. Eine Prostituierte kann zum Beispiel wegen eines Formverstoßes zu Sperrgebietsregelungen gleichzeitig Beschuldigte und Opferzeugin sein, weil sie dort zur Prostitution gezwungen wurde. Sie genießt als Opfer selbstverständlich trotzdem alle Opferrechte. Die Gewichtung der Gesamtlage bei derartigen Fällen führt in der Regel sehr schnell zur Einstellung des Formverstoßes. Die Verfolgung des Gewaltdeliktes zum Nachteil der Prostituierten hat absolute Priorität. Auf den Opferstatus haben also auch Prostituierte vollen Anspruch, die aus welchen Gründen auch immer in Sperrgebieten oder ohne aufenthaltsrechtliche Erlaubnisse festgestellt werden.

4. Welche Maßnahmen bräuchte es, um Gewalt an Prostituierten aufzudecken und zu verhindern?

Am ehesten würden Aussagen der Betroffenen helfen, aber das ist leider die Ausnahme. Die Mehrzahl der Frauen lebt in einem System von Einschüchterung, Erpressung und Zwängen. Die Angst vor Repressalien, auch gegenüber von Angehörigen im Heimatland, hält viele Prostituierte davon ab, Aussagen gegen ihre Peiniger zu machen. Ein besserer Kontakt der Frauen zu Fachdienststellen der Polizei, eine Personalaufstockung bei den Ermittlungsbehörden, bessere Befugnisse, besser anwendbare Straftatbestände und andere Anmelde- und Beratungsformate für die Frauen etc. würden sicherlich Verbesserungen bedeuten und manche Auswüchse verhindern. Die Grundproblematik lässt sich damit aber trotzdem nicht entscheidend verändern. Es sind einfach überwiegend die falschen Frauen, vulnerable, unselbständige, erpressbare Frauen auf dem Markt. Die Ursachen zu beseitigen statt ausschließlich zu versuchen Symptome zu lindern wäre zielführender.

5. Warum wenden sich nur verhältnismäßig wenige Betroffene aus der Prostitution an die Polizei und was müsste sich ändern, dass diese Frauen Gewalttaten öfter melden?

Die Frage korrespondiert mit Frage 4. Zum einen beeinflussen Ängste, berechtigte Ängste, wie in Ziff 4 geschildert, die Anzeigebereitschaft negativ. Darüber hinaus gibt es zum Teil auch die Unkenntnis über weitere (Schutz-)Maßnahmen nach einer Aussage, z.B. Übergabe an eine geeignete NGO mit Unterbringung in einer Schutzwohnung usw. Mitunter herrscht die falsche Auffassung, dass eine Frau nach einer Aussage wieder ins Bordell zurückgehen muss und der angezeigte Zuhälter/Bordellbetreiber sofort von der Aussage erfährt. Mehr positive und persönliche Kontakte zu Spezialisten der Polizei würden diese Defizite verringern und das Anzeigeverhalten positiv beeinflussen. Die gefürchteten Druckmittel wie Repressalien, auch gegenüber Angehörigen im Heimatland, oder die Bekanntmachung der Prostituierteneigenschaft und/oder die Erpressung mit kompromittierenden Werbefotos, bleiben aber dennoch. Deshalb wäre die wichtigste Maßnahme, zumindest besonders vulnerablen Frauen, auf alle Fälle aber unter 21jährigen Frauen den Zugang in die Prostitution, die meist Zwangsprostitution bedeutet, zu verwehren, besser zu ersparen. So würde verhindert, dass sie überhaupt Opfer werden.

6. Wie werden die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Polizei ausgebildet und sensibilisiert?

Die Antwort bezieht sich auf das Spektrum Prostitutionsüberwachung und Bekämpfung von Menschenhandel /Zwangsprostitution etc. Es gibt sicherlich regionale Unterschiede. Nach meiner Erfahrung erfolgt die Personalauswahl für diesen Deliktsbereich nach entsprechender sozialer und fachlicher Kompetenz. Fachlehrgänge auf verschiedenen Ebenen und Fachtagungen mit entsprechendem Erfahrungsaustausch dienen der Sensibilisierung der eingesetzten Fachleute.

7. Wie könnte die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Beratungsstellen für Frauen in der Prostitution verbessert werden, um mehr Betroffene von Gewalt zu erreichen?

Seit rund 20 Jahren gibt es z. B. in Bayern Kooperationsvereinbarungen zwischen Polizei und Beratungsstellen. Sofern das gegenseitige Verständnis für die jeweiligen Pflichten gegeben ist, funktioniert die Kooperation, so meine langjährigen Erfahrungen mit NGOs, auch in der Praxis gut. Wichtig ist die Tätigkeitsausrichtung von Beratungsstellen. Hilfsorganisationen wie Solwodi, Jadwiga oder vergleichbare Organisationen leisten sehr wertvolle Arbeit bei der Betreuung von Zwangsprostituierten. Daneben gibt es Verbände, die primär die Interessen von selbstbestimmten Prostituierten vertreten und/oder Einstiegsberatungen durchführen. Gemeinsame Absprachen und Strategien sind wichtige Erfolgskriterien. Wenn eine Betroffene zum Beispiel aus einer Gewaltsituation befreit werden kann, ist es wichtig, gleichzeitig den Aggressor juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. Ansonsten wird er weiter agieren und neue Opfer schaffen.

Quelle: https://www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/frauenhandel/aktuelles/5125-die-mehrzahl-der-frauen-lebt-in-einem-system-von-einschuechterung-erpressung-und-zwaengen-oberkriminalrat-a-d-helmut-sporer-im-interview